2020// Internationale Musiktheorie und Praxis (Phase 2)

von Ursel Schlicht

Dieses Projekt wurde von Ursel Schlicht/SonicExchange in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Interkulturelle Musik e. V. veranstaltet. Wir bedanken uns herzlich bei der Abteilung Sozialplanung der Stadt Kassel und der Hessischen Staatskanzlei für die Förderung, die diesen Workshop möglich machte!

Ursel Schlicht hat mit geflüchteten Menschen aus Syrien, Eritrea, Kurden aus verschiedenen Regionen Syriens, dem Iran, dem Irak oder der Türkei ebenso wie mit deutschen musikinteressierten Menschen gearbeitet.

 

In Phase 1 dieses Workshops vom 24.11. 2018 bis zum 6. 4. 2019 hatte sich eine motivierte Gruppe gebildet und musiktheoretische Grundlagen gelernt.  Mehrere Teilnehmer konnten nun erfolgreich eigene Melodien in den vorgegebenen Tonskalen dorisch und lydisch bilden.  Diese wurden gemeinsam im Workshop gehört, gesungen, gespielt und in Teilen auch notiert. 

 

In der Praxis wurde allen deutlich, dass hinter jedem Begriff, auch den grundlegendsten Termini wie Ton, Klang, Note, Stimmung, Intervall oder Tonleiter, bei genauer Betrachtung ein weites Feld an physikalischen, historischen, ästhetischen und kulturellen Interpretationen auftut, was gerade in solch einer internationalen Gruppe spannende Diskussionen ermöglicht.  Kenntnisse in musikalischen Grundlagen sollten nun weiterhin vermittelt und vertieft werden.

 

Mehrere Teilnehmer kamen aus der orientalischen Musik, aus Syrien, dem Irak, und aus Rojava, dem syrischen Kurdistan.  In der arabischen Musik gibt es eine Vielzahl von Skalen und melodischen Wendungen.  So standen zeitweise auch einige Besonderheiten der orientalischen Musik im Vordergrund, zum Beispiel die Verwendung von ausgewählte Skalen.  Diese enthalten Vierteltöne und wir sprachen über deren Notation. Dies sind auch für westeuropäisch geprägte Teilnehmerinnen und -Teilnehmer spannende Gebiete, die normalerweise in westlicher Musik nicht mit gelehrt werden und diesen Workshop zu einem inter-kulturellen Forum machen.

 

Wir begannen Mitte August 2019.  Sam Munzer und Ursel Schlicht wiederholten zunächst Intervalle, einfache Tonleitern, den Begriff des Leittons, und einfache Notenwerte.  Es wurden Tonleitern, Intervalle und Akkorde gesungen, Rhythmen geklatscht, Melodien, Rhythmen und Musikstücke geübt, und sich mit dem Notenbild beschäftigt. Noten zu lesen und zu schreiben war ein wichtiges Thema. Es erfordert viel Zeit und Kontinuität.  Die Gruppe hatte Lust, sich mit Rhythmen zu beschäftigen.  Sam Munzer brachte uns orientalische Rhythmen bei, mit der von ihm empfohlenen (und in dem Kontext üblichen) Methode, die Rhythmen mit “dum” (tiefer Schlag)  “tak” (hoher Schlag) und “es” (Pause) zu sprechen. 

Sam schrieb für die Gruppe die Beispiele Maqsom (Maksoum), Baladi, Vals (Walzer) und Samai auf: 


Der Maksoum im 4/4 Takt wird dann “dum tak es tak dum es tak es” gesprochen.

Wir üben, den Samai im 10/8 Takt - auf dem Bild unten notiert - zu sprechen: “dum es es tak es dum dum tak es es”  Die Silben verteilten wir auf verschiedene Personen.


Hausaufgabe war, kurze rhythmische Patterns zu notieren. Sami brachte sehr gute Rhythmen ein, die wir dann durchgingen, klatschten, spielten.

Das fiel allen relativ leicht, aber die Notation war ungewohnt und schwer. Es wurde Schritt für Schritt probiert. Zum Schluss notierte ich dann noch einmal alles korrekt auf Notenpapier, für alle zum Mitnehmen.

Freizeit- und Kulturmarkt in Kassel am 13./14. September 2019

An Wochenende 13./14. 9. 2019 präsentierten sich eine Vielzahl von Initiativen und Vereinen in Kassel auf dem Königsplatz, um einer breiten Öffentlichkeit Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung in Sport-und Kulturzusammenhängen zu zeigen. Es kamen am Freitag Vormittag zahlreiche Schulklassen.

 

Für die Teilnehmer vom Workshop “Interkulturelle Musiktheorie und -Praxis” war es das erste Mal, dass wir gemeinsam unseren Workshop präsentierten.

Als Leiterin halte ich es gerade in einem solchen interkulturellen Zusammenhang für sehr wichtig, gemeinsam nach außen zu gehen. Zur Vorbereitung gestalteten wir eine Stellwand, mit Materialien unseres Workshops sowie Fotos aus Projekten des Zentrums für Interkulturelle Musik. Sami und Hamoudi schrieben eine Begrüßung und einige musikalische Begriffe auf arabisch auf die Stellwand. Daraufhin kamen mehrere Schülerinnen und Schüler auf uns zu, die selbst als Muttersprache arabisch sprachen und sich freuten, auf arabisch angesprochen begrüßt zu werden. Zwei etwa fünfzehnjährige Mädchen kamen am nächsten Samstag zum Workshop. Sie waren erfreut und erleichtert, dass nicht “nur” Deutsche dort waren und sagten, sie hätten sich sonst nie getraut zu kommen. Ein arabisch sprechender Schüler besuchte uns am Stand und spielte spontan mit.

Die Stimmung war wunderbar, es wurde viel gelacht, das Wetter war gut, unsere Beiträge kamen gut an, obwohl unsere Materialien improvisiert waren und wir kein fester Verein sind.  Wir gaben Handouts und Visitenkarten aus. 

Da wir am Stand immer wieder musizierten, wurden wir dann am Freitag mittag ganz spontan gefragt ob wir kurz eine Caricatura-Ausstellung in der Markthalle mit Musik eröffnen könnten. Eine halbe Stunde später spielten Sami und ich in der Markthalle Melodien, die in unserem Workshop entstanden waren.

Für kurze Zeit wurde unsere Gruppe nun etwas größer. Alle zeigten große Motivation, den neuen Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu helfen. Es war schön zu beobachten, wie Teilnehmer nun selbst grundlegende Termini erklärten. Die Niveauunterschiede waren nun allerdings sehr groß, und dadurch geriet der eigentliche Fokus kurzfristig aus dem Blick. Die Anfänger hätten einen eigenen Kurs gebraucht, und dafür waren es nicht genug Teilnehmer. Es war ein schönes Experiment, aber es galt, sich wieder auf die individuellen Stärken der Fortgeschrittenen zu konzentrieren. Wer von den Anfängern wollte, konnte passiv teilnehmen.

 

Wir kehrten zurück zum Thema Rhythmus. Ich stellte einen Ausschnitt von Steve Reichs “Music for Eighteen Musicians” vor.

Notenbeispiel
Notenbeispiel

Alle sollten sich zu Hause rhythmische Patterns überlegen.  Trees schrieb gleich eine ganze Reihe von Rhythmen im 5/4 Takt. Wir beschäftigten uns mit der Notation und lernten die Rhythmen klatschen.

Ich harmonisierte die Rhythmen auf dem Klavier, damit sie leichter zu üben und zu merken waren. So entstand gleich ein kleines Musikstück.

Sam und Hamoudi stellten verschiedene Rhythmen vor, darunter den irakische Rhythmus Georgina im 5/8 Takt, den wir dann auch mit viel Freude übten. So widmeten wir die verbleibenden Wochen diesem Rhythmus und einigen von Sam eingebrachten Rhythmen im 6/4 Takt.

Bis zum Ende des Workshops diskutierten wir ebenfalls individuelle musikalische Fragen, und verabredeten, uns auch nach dem offiziellen Ende weiterhin in unregelmäßigen Abständen zu treffen.

 

Einmal brachte uns Sam verschiedene Rhythmen im 6/4-Takt bei, wie in diesem Beispiel. Sam dirigiert und zählt die Schläge im Video im Hintergrund.